Die Postkarte musste eine weite Reise hinter sich haben. Der Karton sah ein wenig abgegriffen aus und verströmte einen leisen Geruch nach Ferne und Salz. Das Bild einer Nymphe zierte die Vorderseite. Es handelte sich bestimmt um eine berühmte Schauspielerin, sonst hätten sich nicht so viele Leute für die Karte interessiert. Sie war offensichtlich schon durch zahlreiche Hände gegangen.
„Kann es endlich losgehen?“ Wilhelms Stimme riss Dora aus ihren Gedanken.
„Ja, ich bin gleich so weit, Moment.“
„Beeil dich, das Licht ist gerade gut.“ Der Fotograf klang genervt.
Irgendetwas stimmte da nicht. Dora starrte in den Spiegel. Die Spiegel-Dora starrte zurück: Ein pausbäckiger Backfisch mit kupferbraunem Haar und einem kleinen Schmollmund, der stets den Eindruck erweckte, sie sei beleidigt. Die lebhaften grünen Kulleraugen sprangen wie vorwitzige Laubfrösche aus ihrem Gesicht und verliehen ihr etwas Kindliches, dabei war sie schon sechzehn. Auch sonst war sie spät dran. Erst vor einem Jahr war sie in das „gefährliche Alter“ gekommen, wie ihre Mutter es nannte, und ihr Körper hatte sich endlich an den richtigen Stellen gerundet. Normalerweise trug Dora einen Zopfkranz, wie alle jungen Mädchen im Ort. Doch jetzt war ihr hüftlanges Haar zu Rollen und Wellen aufgetürmt, als hätte ein Seevogel auf ihrem Kopf sein Nest gebaut. Sie hatte sich wirklich Mühe gegeben, damit es so aussähe wie bei der Frau auf dem Bild. Trotzdem, irgendetwas war anders. Ist ihr Haar kürzer? Dora kroch förmlich in die Postkarte, um es besser zu erkennen, bis ihre Nasenspitze fast das Papier berührte. Aber das veranlasste die Schauspielerin auch nicht dazu, sich umzudrehen, damit Dora ihre Frisur besser imitieren konnte.
Am Leib trug Dora nichts außer ihrer Unterwäsche aus festem Leinen und etwas, das an eine Tunika erinnerte. Ihre Brüste zeichneten sich wie zwei frische Augustäpfel unter dem weißen Stoff ab. Es handelte sich um eine alte Gardine, der Muff der Vergangenheit strömte aus ihren verschlissenen Rändern. Dora hatte sie so kunstvoll über ihrem Leibchen drapiert, dass sie glatt als Kleid durchgehen würde. Nur ihre knielangen Unterhosen lugten darunter hervor. Es musste so reichen, besser bekam sie es nicht hin. Dora ähnelte der Frau sogar ein wenig. Gewiss, sie war keine klassische Schönheit, dafür war ihre Nase etwas zu kräftig. Doch sie war groß und schlank, durchaus hübsch. Wenn bloß diese vermaledeiten Hamsterbäckchen nicht wären! Dora krauste die Nase, kniff ihre Augen zu Schlitzen zusammen und blies die Wangen auf. Sie seufzte, warf einen letzten Blick in den Spiegel und trat hinter dem hölzernen Paravent hervor in Wilhelms Atelier. Eigentlich war es nur ein Lagerraum, der an den winzigen Laden anschloss. Mit Stoffbahnen, spanischen Wänden, einer Standuhr, einer Chaiselongue und viel Geschick hatte er den kahlen Raum in die Illusion eines kleinen Salons verwandelt, wie eine Theaterkulisse. Wer selbst keine gute Stube besaß, konnte sich hier ablichten lassen, ohne sich eine gesellschaftliche Blöße zu geben.
Wilhelm stand mit der Kamera fast im Laden. Seine Schultern berührten beinahe die Tür, damit er alles ins Bild bekam. Mit ihrem Stativ erinnerte seine Kamera Dora immer an eine dreibeinige Spinne. Der dunkle Faltenbalg bildete den Körper, in dessen Mitte die gewölbte Linse ruhte wie ein kaltes, totes Auge. Wilhelm sah auf und runzelte die Stirn. „Das geht so nicht!“
„Findest du nicht, dass ich der Frau ähnlich sehe?“
„Doch, doch, freilich. Es ist nur …“
„Ich finde, es sieht schon irgendwie wie eine Tunika aus! Besser bekomme ich es nicht hin!“
„Ja, schon … aber sie trägt kein Leibchen.“ Mit einem schiefen Grinsen nickte Wilhelm in Richtung Doras langer Unterhosen und fügte hinzu: „Und auch keine Beinkleider. Die müssen weg! Sonst sieht es nicht echt aus.“
Dora verschwand wieder hinter dem Paravent und stieg aus ihrer Unterhose, das weiße Leinen raschelte leise. Das Leibchen war schon schwieriger, unter dem Stoff herauszubekommen. Sie tastete nach den Haken, die es zusammenhielten, und wand sich hin und her wie ein junger Aal, bis sie es mit einer Hand hervorzog. Mit der anderen Hand hielt sie den Stoff hoch. Dann zupfte sie ihn zurecht, bis nirgendwo mehr Haut hervorlugte. Jetzt war sie unter dem zarten Batist vollkommen nackt. Sie faltete die Unterwäsche und legte sie auf ihren Faltenrock und die Bluse. Dora ging noch in Kinderkleidern. Die Mutter drängte sie zwar ins Korsett, doch der Vater war ihr Verbündeter gegen das Diktat des Schnürmieders. Er nannte es „ungesund“. Wenn er wüsste, was sie hier tat … Windelweich würde er sie mit dem Rohrstock schlagen. Dora verdrängte den Gedanken an den Vater, er hielt eh nie etwas von ihren Plänen. Und außerdem war sie heute frei. So frei, wie ein Mädchen in ihrem Alter an einem Mittwochvormittag nur sein konnte. Der Vater war am Gymnasium und unterrichtete, Emma war in der Schule und die Mutter war nach Ilmenau zu Doras Bruder gereist; Carls Frau erwartete ihr erstes Kind.
Wilhelm hantierte auf der anderen Seite des Paravents an der Kamera. Mit einem Klappern fiel etwas zu Boden. „Bist du bald fertig?“
„Ja, ich bin bereit.“ Ein Zittern schwang in Doras sonst so klarer Stimme. Sie atmete einmal tief durch und lächelte ihrem Spiegelbild zu.
„Steh nicht nur so rum. Mach irgendwas!“ Wilhelm und das tote Auge der Kameraspinne starrten sie an. Dora kam sich auf einmal entsetzlich nackt vor. Er hatte sie schon öfter fotografiert, aber noch nie so. In Doras Alter war es schon höchst unanständig, allein mit einem Mann zu sein. Dass sie noch nicht einmal mehr Unterwäsche trug, war unsittlich, nahezu ungeheuerlich. Was tat sie hier bloß? Schützend schlang sie die Hände um die Schultern und kreuzte die Arme vor der Brust, in der das Herz auf einmal viel zu schnell stolperte und schlug. Die Kälte der harten Fußbodendielen kroch in ihre Füße und kletterte die nackten Fesseln empor. Gleichzeitig schoss ihr das Blut in die Wangen. Sie zog die Arme noch etwas fester um sich.
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